Andrea Rieger-Jandl (Ao. Univ. Prof. DI Dr. phil.) leitet den Masterstudiengang Architektur – Green Building an der FH Campus Wien, sie ist Ao. Universitätsprofessorin am Forschungsbereich Baugeschichte und Bauforschung der TU Wien und Vorsitzende des Netzwerk Lehm. Sie absolvierte ihr Architekturstudium an der Technischen Universität Wien mit Studienaufenthalten in den USA (IIT Chicago, MIT Bosten, UC Berkeley), ihr Doktoratsstudium an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Wien und habilitierte an der TU Wien mit einer venia docendi in kulturvergleichender Architekturgeschichte. Als Architekturwissenschaftlerin und Anthropologin fokussiert sie ihre Forschungen auf die ökologische und sozio-kulturelle Nachhaltigkeit traditioneller und rezenter Architekturformen. Ihre Lehre konzentriert sich auf ökologische Baukonstruktionen, vernakuläre Architektur, Lehmarchitektur, Architektur und Identität, Bauen im Entwicklungskontext und hier vor allem auf hands-on-Erfahrungen, partizipative Prozesse und multidisziplinäre Kooperationen.

Kurzlebenslauf zum Downloaden, deutsch und englisch
Curriculum Vitae
IVA/Netzwerk Lehm

Kontakt:
rieger-jandl(at)tuwien.ac.at

Motivation

Meine Vision einer gebauten Umwelt ist jene, in der Natur, Mensch und Architektur sich bedingen. Sie ist ökologisch ausgewogen und erfüllt sozio-kulturelle Anforderungen in einer Weise, die zukünftigen Generationen entsprechende Möglichkeiten erhält. Adäquates Wohnen ist mehr, als ein Dach über dem Kopf – es ist ein Menschenrecht (Univ. Decl. of Human Rights, Article 25/1). Wohnen vermittelt Sicherheit, Geborgenheit und Würde. Architektur ist ein physisches Abbild unserer Lebensweise. In meinen Architekturforschungen interessiere ich mich für die sozio-kulturellen Konzepte hinter der gebauten Umwelt, für das Dokumentieren und Erhalten von im Schwinden begriffener Baukulturen, für nachhaltige Bautechniken und Baustoffe (mit Schwerpunkt Lehm), für Hands-on-Erfahrungen, partizipative Prozesse und multidisziplinäre Kollaborationen.

Eine Architektur ist schön, wenn sie gesund ist, nachwächst, gescheit ist, für heute und morgen bestimmt ist, warm hält, atmet, Ruhe schenkt, Freude macht. Solche Attribute treffen häufig auf traditionelle Architekturformen zu, deren Architektursprache aus den lokalen Möglichkeiten und Ressourcen heraus entsteht und eine schöpferische Kraft entwickelt, die als zutiefst menschlich wahrgenommen wird. Diese Architektur lukriert ihre `Lebensenergie´ aus dem Entstehungsprozess. Das Verständnis für diese Lebensenergie erfordert Wissen, Intuition, Sensibilität und teils auch ein Loslassen des unentwegten Strebens.

Viele Ansprüche werden heute an die Architektur gestellt: Flexibel soll sie sein, und sich uns anpassen. Und dauerhaft, damit man möglichst lange eine Ruh´ hat. Sie soll nicht auffallen, aber besonders muss sie schon auch sein. Sie soll nachhaltig sein, solange auf nichts verzichtet werden muss. Modern soll sie sein, aber irgendwie auch gemütlich… weil selber sind wir das nicht mehr. Wenn die Ansprüche so komplex geworden sind, ist es oft kein schlechter Rat, auf die Ursprünge zurück zu gehen und sich zu fragen: Wieviel Architektur brauchen wir überhaupt? Und warum?

Im besten Fall bildet die Architektur einen `intelligenten´ Rahmen für eine `intelligente´ Lebensweise. Intelligent bezieht sich hier in erster Linie auf unsere vorhandenen Ressourcen, denn es kann nicht negiert werden, dass die Bauwirtschaft durch ihren massiven Verbrauch an Energie und Rohstoffen einen großen Teil zur Vernichtung unserer Lebenswelt beiträgt und sich die Architektur zunehmend in arroganter Selbstdarstellung verliert. In ihrer ursprünglichsten Form des vernakulären Bauens hat eine `dienende´ Architektur den Menschen über Jahrtausende Schutz und Geborgenheit vermittelt. Protagonisten wie Victor Papanek, Bernard Rudofsky, Amos Rapaport, Gaudenz Domenig, Paul Oliver und Marcel Vellinga haben wichtige Beiträge dazu geleistet, die Architektur von ihrem Hohen Ross herunterzuholen und auf die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen in Bezug auf die gebaute Umwelt aufmerksam zu machen. Architektur ist mehr als ein entbehrlicher Luxus. Daher müssen wir es auch den Studierenden zutrauen, sich für höhere Ziele einzusetzen, anstatt sich mit dem Kreieren hübscher Schmuckkästchen für zwei Prozent der Menschen aufzuhalten. Sie müssen wieder die `Muttersprache der Architektur´ erlernen, um das Gebaute von allen Schnörkeln zu befreien und das Essenzielle, das Notwendige zu erkennen.

Das Elementare, das Vernakuläre, die Grundprinzipien der Architektur zu beleuchten ist heute essenzieller denn je, da durch die Heterogenität der Architekturlandschaft eine Strukturierung des Architekturgeschehens mit den herkömmlichen Methoden der Architekturgeschichte nicht mehr ausreicht. Eine festgefahrene, eurozentrische Sichtweise auf die Architekturgeschichte ist nicht mehr zeitgemäß, ein Denken in Zusammenhängen fordert eine holistische, weltweite Interpretation architektonischer Verknüpfungen und ihrer reziproken Einflussfaktoren.

In vielen Ländern und Regionen, die wir innerhalb unserer Forschungsaufenthalten und Exkursionen besucht haben, ist das Verschwinden jahrhundertealter, traditioneller Bauformen kaum mehr aufzuhalten. Die Baudokumentation ist dabei nicht selten die einzig mögliche Form der Erhaltung.

Daher ist die Auseinandersetzung mit traditionellen Architekturformen heute wichtiger denn je. Es ist eine Architektur, die über Jahrhunderte optimiert wurde und sich an klimatischen Bedingungen, dem Vorhandensein von Baumaterialien und den jeweiligen sozio-kulturellen Einflussfaktoren orientiert. Es ist eine Architektur, die sich selbst entsorgt, die nicht Milliarden Tonnen von Sondermüll hinterlässt und die den Menschen mit dem geringstmöglichen Energieaufwand maximale Schutzfunktion bietet.

Sich mit dieser Architektur zu beschäftigen, hat nichts Rückwärtsgewandtes an sich – im Gegenteil, es ist die Zukunft. Viele Generationen haben in vorindustriellen Zeiten über Jahrhunderte hinweg, und außerhalb unseres industrialisierten Raumes bis heute, nachhaltig gebaut – das heißt, wir haben es schon einmal besser gemacht! Architektur eingebettet in einen natürlichen Kreislauf, in eine Lebensform, in eine Weltanschauung, als grundlegende Antwort auf das Bedürfnis Wohnen. Daraus können wir lernen, anstatt uns in großen Konzepten und utopischen, technik-verhafteten Weltrettungsstrategien zu verlieren. Warum klammern wir uns in der Architekturlehre nach wie vor an das formale, intellektuelle, akademisch geprägte Bild einer Architektur, die für maximal zwei Prozent der Menschheit bestimmt ist? Was ist mit dem großen Rest? Wollen wir eine Architektur schaffen, die das Lebensumfeld für alle Menschen verbessert, müssen wir ganz woanders hinschauen, nämlich dorthin, wo oft noch nie ein Architekt oder eine Architektin einen Fuß in das Gefüge gesetzt hat. Dorthin, wo das Haus noch die ureigensten Bedürfnisse des Menschen befriedigt. Und das ganz selbstverständlich und ohne Spektakel.

Es geht nicht darum, bewährte Methoden der Architekturwissenschaften über Bord zu werfen. Es geht es darum, eurozentristische Konzepte aufzubrechen, von der Diversität der Zugänge zu lernen, um dann darüber hinauszugehen und eine zukunftsfähige Architektur zu schaffen.

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